Ich seh, ich seh

„Bist du fertig?“ 

„Ja, es kann losgehen!“ 

Die Stille steigerte die Spannung. 

„Also gut.“

„Ich fange an, gut?“ 

„Gut. Los!“

„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist – grün!“ 

„Hm …“ 

Der Wind blies leise vor dem Fenster. „Grün … die Tapete?“ „Nein!“ Es klang triumphierend.

„Hm …“ „Grün … die Wiese?“ 

„Nein, nicht die Wiese!“

„Nicht die Wiese … nicht die Tapete …“ Die Stille dauerte an, langsam wurde eine gewisse Spannung spürbar. „Grün … grün wie … die Vase neben der Tür!“ 

„Aaach …“ 

Es klang enttäuscht. „Ja, die Vase. Stimmt. Dabei gibt es noch so viele grüne Sachen! Wie bist du darauf gekommen? Wie hast du es erraten?“ „Erraten? Ich habe einfach aufgepasst! So wie du geschaut hast …“ „Geschaut? Was ist denn mit dir los? Ich habe doch nicht geschaut?!“ Es klang nicht sehr überzeugend. „Los, also du bist dran!“

 

„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist … blau.“ 

„Blau …“ 

Ein Vogel zwitscherte. „Blau … wie der … Himmel!“ 

„Falsch!“ 

„Hm …“ – Wieder zwitscherte der Vogel. „Blau …“ 

„Ja, blau!“ kam es wie eine Bestätigung zurück. „Blau wie der Himmel, aber es ist nicht der Himmel!“ 

„Ja, ja, schon klar!“ Die Stimme war fast ärgerlich. „Gut … also blau …“ Die Ruhe legte sich über den Raum, minutenlang war es still. 

„Der Bezug …“

„Der Bezug … jaaaa? Welcher Bezug?“ 

„Der Bezug … von …“ Es klang so, als ob er auf eine Eingebung warten würde. „ … von … dem dritten Polster am Sofa?!“ „Ja …!“ Fast erlösend klang das Wort durch den Raum. „Gut, nächste Stufe, schnell, die Zeit läuft!“

 

„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst … und das ist … laut!“ Das letzte Wort hallte durch den Raum. 

„Laut! Was soll denn das? Laut … na gut.“ 

Die Herausforderung war angenommen. 

„Laut!“ als ob das Gesuchte darauf reagieren würde, rief er es hinaus. „Ein Radio ist laut …“ „… aber nicht anweeeheesend!“ spottete sein Gegenüber. 

„Eine Vase ist laut, wenn man sie auf den Boden wirft …“ Schon die Intonation machte klar, dass dies kein ernstzunehmendes Argument war. „Laut … laut … laut …“ murmelte er vor sich hin. Sein Mund war spitz vor Konzentration. „Laut …“ Langsam rieben seine Zähne auf der Oberlippe. Plötzlich hielt er inne. Sein Mund formte langsam, aber immer sicherer, ein breites Grinsen. Sein Kopf drehte sich, und er rief: 

„Die Glocke! Die Glocke!!!“ 

„Ja! Ja!“ 

Die Antwort kam wie ein Echo, und beide lachten.

 

„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist … schmeeeerzhaft!“ Das Wort klang, als ob es über einen Schleifstein gezogen worden war. 

„Ääääääääh!“ äffte er ihn nach. „Na gut, das lässt sich machen!“ „Und los, versuche es …“ Der Zweifel in diesen Worten war hörbar. 

„Ääääääääääh …!“  leise, fast wie das Stöhnen eines Tieres. „Äääääääh …“ 

„Schmääääärrrzhaft …!“ flüsterte sein Gegenüber … „Denke daran: schmäääärzhaaaaaft!“  „Schmääääärzhaft  wie …“ „… eine Tischkante, wenn man dagegenstößt?“    

„Öööööööh!“ klang es enttäuscht. „Wir sind nicht in der Küche, mein Lieber! Keine Tischkante! Schmäääääääärzhaft!“ Wieder flüsterte er das Wort, fast zärtlich, liebkosend. 

„Ääääääääähhhh!“ kam es zurück, wie die Antwort auf eine sanfte Berührung. – Dann folgte langes Schweigen,  und plötzlich begann er zu kichern: „Hm … Hihi … so schmääääärzhaft … hihihi .. wie …. ha ha haaaa!“ Aus dem Kichern war ein lautes Lachen geworden. 

„He, was ist los? Bist du übergeschnappt?“ Kurz verstummten sie, dann lachten beide los, warfen sich auf den Boden und lachten weiter. 

„Also … hihihi, eigentlich meinte ich ja, vielleicht so schmäääääärzhaft wie …. hihihi … haha .. ha … eine alte James-Last-Aufnahme auf Vinyl???“ 

Das hysterische Lachen der beiden erfüllte den Raum, und es dauerte Minuten, bevor sie sich beruhigen konnten und schließlich der eine sagte: „Los jetzt! Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist SCHMERZHAFT! Denk nach!“ Es klang weniger streng als ironisch. 

 

„Schmeeeeeeerz …  Schmeeeeeeeerz!“ Leise,  ganz leise, wiederholte der andere das Wort, immer und immer wieder. Und wieder folgte eine lange Stille, nur die Vögel im Garten achteten nicht darauf. 

„Aaaaaaaah …“ drang es durch den Raum. „Aaaaaaaaaaah, aber das kann doch nicht sein …! Aaaaaaaahhh!“ Es klang wie ein Gesang, eine indische Weise, die fast klagend durch den Raum schwebte. „Aaaaaaaaaah! Oh neeeiiiiin!“ „Oh jaaaaaaaaaaaah! stimmte der andere mit ein, „ich glaube, du hast es erraaaaaaaten!“ Und der Raum füllte sich mit einer Überlagerung von „Aaaaaaaaah!“ und „Jaaaaaaahh!“ und „Neiiiiiiiiiiin!“, bis sich die Töne ineinander vermischten und einen Klagegesang erzeugten, der an die alten griechischen Theater erinnerte.

 

Plötzlich waren Schritte zu hören, und ehe sie reagieren konnten, flog die Türe auf: „He, ihr da! Wir haben euch schon gesucht!“ 

„Nein, nein, wir müssen erst fertig werden! Warten Sie!“

„Nichts da, auf eure Zimmer!“ Die Wärter packten die zwei Männer und zerrten sie auf den Gang. 

„Sag mir …!“ brüllte der eine, „ist es die Nadel gewesen?!“ „Jaaaaaaaah!“ kam es aus der Ferne, „die Nadel! Die Nadel und der Faden!“ 

„Jaaaaaaaah! Ich habe es erraten! Ich habe es gesehen! Ich kann wieder sehen!!!“ 

Die Stimme begann sich zu überschlagen und die Wärter hatten Mühe, ihn davon abzuhalten, dass er an den Nähten riss, die seine Augen verschlossen hielten.

„Ich seh, ich seh, was du nicht siehst …! Jaaaaaa! Wir sehen uns, hahahaha!“ Das Lachen drang durch die weißen Gänge, und verstummte erst, als sie in ihre schalldichten Zimmer gebracht worden waren. 

Als die Türen verriegelt waren, schüttelte sich der eine Wärter: „Also wirklich – werde ich nie verstehen, was in denen vorgeht: Würdest du dir selbst die Augen zunähen, nur damit du ein Scheiß-Kinderspiel spielen kannst?“ „Nein, bin doch nicht übergeschnappt!“ meinte der andere und zündete sich eine Zigarette an.