Der Besuch

Der Besuch

 

Sie ließ einen letzten Blick über das Haus schweifen. 

Die Küche, das Wohnzimmer, oben die Kinderzimmer und ihr Schlafzimmer, die Veranda und der Balkon – alles war perfekt. 

„Also“, murmelte sie geistesabwesend vor sich hin und rieb sich den Nasenrücken, „hoffentlich geht alles gut!“

Die dunklen Augen flackerten unruhig. „Was hast du gesagt, mein Schatz?“ Sie drehte sich um: „Ach, ich bin nur ein wenig nervös. Hoffentlich …“ Er kam näher und lächelte verständnisvoll: „Keine Angst, es wird schon gut gehen! Sie bleiben sowieso nicht so lange!“ „Lange genug, um das Haus zu inspizieren und an jedem Staubkorn Kritik zu üben! Die Kinder sind viel zu dünn und ungewaschen, das Haus ist verdreckt, das Essen ist ungenießbar, …“ Der Mann sah verzweifelt aus: „Ja, ja, ich weiß! Aber was soll ich tun? Wir können doch wegen ihnen nicht einfach nach Australien auswandern?!“ Sie sah ihn fast ernst an: „Keine schlechte Idee. Wenn ich mir das vorstelle: Wir in Australien und deine Eltern hier … Aber nein, sie würden ins nächste Flugzeug steigen und …“ „Papi, Mami! Sie sind da! Sie sind da!“ Die kleine Tochter rannte an ihnen vorbei zur Tür. Ihr Mann klopfte ihr auf die Schulter und ging ebenfalls hinaus. Sie besann sich noch einen Moment, dann atmete sie durch: „Nun dann!“

„Schatzilein! Meine kleinen Schatzilein sind da! Eure liebe Omama hat euch ja schon sooo vermisst! Ich habe euch auch viele Spielizeugi mitgebracht! Da, schaut doch einmal!“ Sie redet mit ihnen, als ob das dressierte Affen wären, als ob meine Kinder geistig zurückgeblieben sind!, dachte sie. „Hallo, mein Junge! Wie geht es dir? Schlecht siehst du aus! Bekommst du nicht genug zu essen? Oder musst du zuviel arbeiten? Du solltest endlich wieder einmal Urlaub machen und zu uns kommen!“ Der Blick fiel auf sie: „Hallo! Du solltest dich etwas mehr um den Garten kümmern, da vorne wuchert das Unkraut!“ „Das ist kein Unkraut, das sind Heilpflanzen …“ „Bei uns nennt man so etwas Unkraut, reißt es aus und wirft es weg. Na ja.“

„Mami, Mami! Schau, was Opapa und Omama mir gebracht haben! Eine Puppe zum Anziehen! Mit soviel Sachen dabei …“ Billiger Schrott, der nach zwei Tagen kaputt ist. „Na fein, dann gehe doch und spiele ein wenig damit!“ sagte ihr Mann und zog seine Frau auf die Seite: „Schatz, denke immer daran: Sie fahren bald wieder weg …“ „He, Sohn! Komm einmal da her! Was ist denn mit dem Garagentor? Warum steht es denn halb offen?“ „Ach, das klemmt, ich wollte das heute Abend noch in Ordnung bringen und …“ „Neumodischer Dreck, was? Jaja, ich habe euch immer gesagt: Kauft dieses Haus nicht! Das bringt euch nur Probleme! Warum seid ihr auch nicht zu uns gezogen, wir sind nun ganz allein in dem großen Haus, und das ist noch stabil! Das habe ich doch selbst gebaut! So etwas gibt es heute gar nicht mehr!“ Ich kann das einfach nicht mehr hören! Sie drehte sich um und ging ins Haus: „Ich werde schon einmal anfangen zu kochen!“ „Aber nein!“, beeilte sich die Schwiegermutter zu sagen. „Das ist doch nicht notwendig! Ich habe doch etwas mitgebracht!“ „Sohn, deine Mutter hat deine Lieblingsspeise gemacht: Fleischeintopf! Gesund und kräftigend, damit du wieder einmal etwas Anständiges zwischen die Kiemen schieben kannst und ein wenig Speck auf die Rippen bekommst!“ Der Mann sah seine Frau hilflos an und meinte dann nur: „Aber wir haben doch schon etwas vorbereitet und extra dafür eingekauft …“ „Aber was, das könnt ihr bis morgen aufheben!“ Die alte Frau warf einen abschätzigen Blick zu ihr: „Hast du einen anständigen Topf zum Aufwärmen? Oder nur dieses moderne Zeug, mit dem sich niemand auskennt?“ – „Ich werde schon das passende Geschirr finden.“

Sie stand in der Küche und hörte durch das Fenster die Kinder mit der Mutter ihres Mannes reden: „Und bekommt ihr in der Früh auch ein anständiges Frühstück? Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit am Tag! Und zu Mittag? Gibt es da auch jedes Mal eine gute Suppe, so wie von Omama? Suppe ist wichtig! Nein? Na, das habe ich mir gedacht! War ja nicht anders zu erwarten. Keine Suppe zu Mittag, aber Unkraut züchten! Und im ganzen Haus liegt der Staub! Na ja!“ Sie nahm den Plastikbehälter mit der Fleischbrühe und öffnete ihn. Oben schwamm eine dicke Schicht erkaltetes Fett. Nicht hinsehen, nur nicht hineinsehen! Ihr wurde bereits beim Anblick übel. Sie nahm einen Stahlkochtopf und schüttete alles hinein. Fünfzehn Minuten Kochtopf müsste sogar das genießbar machen! Sie zündete eine Flamme an und stellte den Topf auf den Herd. In dem Moment kam ihre Schwiegermutter in die Küche: „Aber … aber was machst du denn da? Oh nein, doch nicht im Kochtopf! Das muss doch langsam erwärmt werden, damit der Geschmack bleibt! Junge, schau doch, was deine Frau schon wieder gemacht hat! Junge!“ Achtunddreißig ist er, aber sie ruft ihn: Junge! Wortlos verließ sie die Küche und stieß dabei auf ihren Schwiegervater: „Wo, sagtest du, ist der Werkzeugkasten?“ „Ich sagte gar nichts und er ist unter der Treppe! Wozu brauchst du ihn?“ „Unter der Treppe? Das ist aber leichtsinnig! Wenn da ein Kind herankommt, kann es sich doch verletzen! Sehr unvorsichtig. Na, ich werde nun einmal das Garagentor reparieren, falls dieser moderne Dreck überhaupt noch etwas taugt!“ Ja, tu das, dachte sie und ging ins Schlafzimmer. Von dort aus konnte man auf den Garten sehen. Ihr Schwiegervater ging gerade in die Garage, die Kinder spielten auf der Wiese. „Kein Gartentor!“ hatten sie das letzte Mal kritisiert. „Da wird noch ein Kind in den Tod laufen, bei den heutigen Autofahrern!“ Aber es leben noch alle, was für ein Wunder!

Sie ging die Treppe hinab, als sie Geschrei hörte. Es kam aus der Garage. „Um Gottes Willen, was ist denn …“ „Schatz, komm her, mein Vater hat sich verletzt! Schatz!“ Sie kam heraus. Das Garagentor war nun ganz offen, und ihr Schwiegervater lag auf dem Boden. Er blutete an der Schulter. „Was ist denn geschehen?“ Der alte Mann verzog das Gesicht: „Ach, neumodischer Dreck, verdammter! Ich habe das Tor repariert, es hat ja nur geklemmt. und da fliegt mir von oben diese Eisenlatte fast auf den Schädel! Hätte mich erschlagen können, wenn ich nicht so schnell reagiert hätte!“ Sie stützte ihn und gemeinsam brachten sie ihn ins Haus. „Da, setz dich und zieh das Hemd aus, ich sehe mir die Verletzung an!“ Der Alte blickte misstrauisch: „Na, weißt du auch, was du da tun musst?“ „Aber Vater, sie ist doch gelernte Krankenschwester …“ „Sie war!“ korrigierte ihn seine Mutter. „Sie ist ja schon seit Jahren zu Hause, und wird sicher schon einiges vergessen haben. Ich habe das ja nie verstanden, es gibt doch auch Frauen, die fleißig sind und neben den Kindern arbeiten gehen …“ „Die Wunde ist nicht so schlimm, nur ein Kratzer! Du hast wirklich großes Glück gehabt. Ich habe die Wunde desinfiziert und verbunden. Das müsste genügen!“ Wieder beäugte die Schwiegermutter misstrauisch den Verband: „Na, zu Hause gehen wir sicherheitshalber noch einmal ins Spital und holen eine fachlich qualifizierte Meinung ein! So, und jetzt sollten wir essen! Es ist ja schon so spät!“ Sie gingen ins Esszimmer.

„Was ich gesagt habe! Der gute Fleischeintopf schmeckt nach überhaupt nichts! Habt ihr Küchenwürze?“ Sie warf einen scharfen Blick auf ihre Schwiegertochter. „Tut mir leid, so etwas haben wir schon lange nicht mehr. Wir verwenden nur noch frische Kräuter zum Würzen. Aber wenn du willst, gehe ich hinaus und hole etwas Frisches aus dem Garten …“ „Was?“ Es kam fast geschrieen. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich Unkraut in meinen Fleischeintopf werfe!“ „Aber Omama, das ist wirklich gut, wir essen das doch oft und …“ „Und diesen armen Kindern gibst du Unkraut zu essen? Kein Wunder, dass sie so schlecht aussehen! Ganz mager und elend sehen sie ja aus, meine Kleinen! Und blass! Bei uns werden sie dann immer gesund und …“ „ … dick.“ Es war ihr herausgerutscht. „Na und?!“ Die Stimme überschlug sich fast. „Ist etwas dabei, wenn ein Kind etwas fester ist? Die sind ja noch im Wachsen! Die brauchen genug zu Essen! G-e-n-u-g!“ Bist du auch noch im Wachsen, du fette Kuh?, dachte sie und betrachtete ihre Schwiegermutter.

Dem Mann war das Ganze offensichtlich sehr peinlich. „Mutter, ich werde dir deinen Lieblingswein aufmachen. Sie hat ihn dir extra besorgt!“ Sein Bemühen, seine Frau in ein besseres Licht zu stellen, war vergebens: „Extra besorgt, aha. Nein danke, mir ist der Appetit vergangen. Vielleicht später. Jetzt werde ich einmal schauen, was meine Kleinen machen. Die sind ja unbeaufsichtigt im Garten. Können ja jeden Moment in ein Auto laufen!“ „Aber Mutter, wir leben in einer Sackgasse! Da fahren kaum Autos, und wenn, dann nur ganz langsam!“ Ihre Stimme wurde wieder ganz schrill: „Diese Irren fahren heute überall!“ Und ihr Mann bestätigte: „Höre auf deine Mutter, sie hat ein Leben voller Erfahrung hinter sich, sie weiß, was sie sagt!“

Es verging die Mittagszeit, es wurde Nachmittag, es wurde Abend. Die vergangenen Stunden waren erfüllt von „Na, wie die Kinderzimmer schon wieder aussehen!“ „Sohn, das Auto ist ja derart desolat, da muss etwas geschehen!“ „Der Rasen gehört geschnitten – wie das aussieht!“ bis hin zu „Was ist mit deiner Karriere? Wann wirst du endlich Abteilungsleiter?“ Auch das war ein ewiger Angriffspunkt, denn ihr Mann war nicht so sehr darauf bedacht, unbedingt Karriere zu machen. „Aber hört doch auf, ich verdiene doch genug! Warum soll ich mit Gewalt versuchen, aufzusteigen?“ „So wirst du es nie zu etwas bringen! Du ernährst schließlich die Familie – allein!“ Der geringschätzige Seitenblick blieb wie üblich nicht aus.

„Vielleicht jetzt einen Schluck Wein zum Abendessen?“ Die alte Frau schüttelte missbilligend den Kopf: „Nein, nein! Keine Umstände wegen mir!“ Dann nicht. Wortlos räumte sie den Tisch ab. Sie kehrte zurück und wollte einen Besen holen. „Was machst du denn da? Zusammenkehren, damit alles aufstaubt? Na, deswegen ist das Haus so verdreckt, kein Wunder. Ich habe euch schon so oft gesagt: Der Boden gehört nur gesaugt und sonst gar nichts! Aber lass nur, ich mache das selbst, sonst tut es ja doch keiner und der Dreck bleibt liegen! Bemühe dich nicht, ich hole den Staubsauger schon selbst!“ Unbeholfen watschelte sie zum Kasten, während ihre Schwiegertochter das Geschirr in die Küche räumte. „Na so etwas, sogar der Staubsauger ist dreckig! Das gibt es ja wohl nirgends, oder? Na, wo schaltet man denn das Ding ein? Neumodischer Dreck! Mein alter bei uns zu Hause … ah, da!“ Der Staubsauger heulte kurz auf, dann erfolgte ein Knall und ein Schrei, und die Lichter im Haus gingen aus. „Was ist los? He, was ist los? Mutter, Mutter, ist alles in Ordnung? Schatz, bitte geh zum Sicherungskasten, ich glaube, meiner Mutter ist etwas zugestoßen! Schatz, sie bewegt sich nicht!“

Es dauerte nicht lange – für sie war es erstaunlich kurz – bis die Polizei einen Bericht aufgenommen hatte, die dicke Leiche abtransportiert worden war und der weinende alte Mann von seinem Sohn heimgebracht wurde. Die Kinder schliefen nun auch, und sie begann, Ordnung zu machen. Aus ihrer Tasche zog sie einen Zettel; eigentlich war es eine Liste. Jetzt nur nichts vergessen. Also: der Wein. Sie nahm die Flasche mit “Omamas Lieblingswein“, öffnete sie und schüttete den Inhalt ins Klo. Sinnierend betrachtete sie den Korken. Die dünne Nadel, mit der sie noch etwas „Würze“ in den Wein gegeben hatte, hatte im Korken keine Spuren hinterlassen. Das Garagentor hat sich erledigt. Der Wagenheber. Sie ging in die Garage und zog eine wichtige Schraube beim Wagenheber wieder an. Kein Komplettservice vom Fachmann an unserem Schrotthaufen, so ein Pech! Mit der Zeit durchwanderte sie das ganze Haus. Schließlich saß sie erschöpft auf einem Stuhl und ging die Liste noch einmal durch: Blumenregal, das immer so entsetzlich staubig ist und abgestaubt gehört: vergiftete Nadel entfernt. Treppe zum Dachboden, der stets von Opapa inspiziert wurde – nur heute nicht – Schmierseife auf der obersten Stiege: entfernt. Fensterputzmittel mit umwerfenden Betäubungsgasen für die obersten Fenster, die die Omama immer mit der Leiter geputzt hatte – nur heute nicht – entsorgt. Opapas Lieblingszigaretten mit einmal-und-nie-wieder-Tabak: entsorgt. Präparierter Liegestuhl für Omama oder Opapa: wieder repariert. Tja, das wär‘s! Jetzt lächelte sie kurz, dann ging sie noch zum Kasten. Sie nahm den Staubsauger heraus und trug ihn zum Mülleimer. Morgen früh würde ihn der Müllwagen zu seiner letzten Reise abholen.

Der Mond schien hell, und in seinem Licht betrachtete sie noch einmal den Staubsauger, der nun nur mehr nach verbranntem Kabel und Plastik roch.

Sie sah sich kurz um, dann drückte sie ihm einen dicken Kuss auf die Verschalung: „Danke, mein Alter!“ Dann ging sie gemächlich zurück zum Haus. „Immerhin …“ murmelte sie vor sich hin „… eine von zwei Personen. 50 Prozent Erfolgsquote. Gar nicht so schlecht.“ Ein Kauz schrie in der Nähe, und sie blieb stehen. Dort, auf der Eibe, da saß der Vogel: „Was sagst du: 50 Prozent ist doch gar nicht so schlecht, oder?!“ Dann ging sie hinein, und der Kauz hörte noch, wie sie begann, ganz leise ein Liedchen zu pfeifen.