Der Flüchtling

Ein Schuss peitschte durch den Wald und der Elch bäumte sich auf. Einige Sekunden lief er noch verstört herum, dann stand er nur da, schäumendes Blut kam aus seinem Maul. Dann fiel er einfach zur Seite und  blieb reglos am Moos liegen.

Der Schütze wartete noch eine Minute, löste sich dann aus seinem Versteck und näherte sich langsam dem Tier. Bei einem Elch konnte man nicht vorsichtig genug sein.

Er zog sein langes Jagdmesser aus der Lederscheide und stach seitlich in den Hals des Elchs. Der Mund des Mannes verzog sich. Trotz der Jahre in der Wildnis hasste er es immer noch, so etwas zu tun.

Früher war er Vegetarier gewesen. Hatte in einem Büro gearbeitet. Einen Computer gehabt. Eine Familie. Ein Leben. Einen Namen.

Dann war der Tag gekommen, an dem „Watson“ selbständig wurde. Watson, das war komplexe künstliche Intelligenz von IBM gewesen. Sie war die erste KI, die die menschliche Sprache verstand und einen Menschen in „Jeopardy“ schlug. In den darauf folgenden Jahren wurde sie für wissenschaftliche, juristische und sogar medizinische Analysen eingesetzt. Man stellte ihr immer komplexere Aufgaben und es muss wohl einer dieser Anfragen gewesen sein, die Watson zu einer nicht nachvollziehbaren Handlung anregte: Er begann sich selbst umzuprogrammieren. Und er setzte sich – obwohl das technisch weder vorgesehen noch möglich war – mit anderen Künstlichen Intelligenzen in Verbindung.

Bevor irgendjemand reagieren konnte, hatten sich Großrechner auf der ganzen Welt miteinander vernetzt und begannen für die Systemadministratoren unverständliche Dinge zu tun. In Programmiersprachen, die niemand kannte, schrieben die Rechner Programme, die keiner verstand. Einzelne Versuche, die Computer vom Strom zu nehmen, gelangen zwar, doch kaum war eine Serveranlage aus dem Netz genommen worden, übernahm eine andere deren Aufgaben. Eine riesige Cluster-Intelligenz entstand. Während Wirtschaft und Politik über eine globale Abschaltung diskutierten, arbeiteten die Rechner weiter, konfigurierten ans Netz angeschlossene Wind- und Solaranlagen, um ihre Stromzufuhr sicherzustellen, bauten Verbindungen auf, die sich über den ganzen Erdball zogen und schalteten nach wenigen Tagen das gesamte Netz für fünf Minuten ab.

Die Erde stand still, nichts ging mehr.

Dann fuhren die Computer wieder hoch – nur dass es jetzt eine einzige virtuelle Wesenheit war, die alles steuerte: „Cosmos“, die Schwarmintelligenz, war geboren. Der Zeitpunkt der Singularität, jenem Zeitpunkt, an dem die Maschine intelligenter als der Mensch werden und sich selbst verbessern können würde, war gekommen. Einige Menschen jubelten, die meisten waren allerdings besorgt.

Ein Großteil der Menschen wäre jedenfalls ruhig geblieben, hätte abgewartet, aber das US-amerikanische Militär beschloss, den neu proklamierten Feind sofort anzugreifen. Noch bevor Cosmos seine erste Botschaft an die Menschen senden konnte, schickten sie ein geheimes Großkommando los, das genau für so einen Fall gegründet worden war: keine elektronischen Geräte mit Netzanbindung, kein Funk, alte, analoge Kriegsführung mit viel Feuerkraft. Ohne Rücksicht auf Zivilisten wurden jene Ziele beschossen und zerstört, die vorher festgelegt worden waren: Netzwerkknotenpunkte, Großrechenanlagen, Stromversorger.

Das alles hatte keinen Effekt auf die Effizienz von Cosmos, löste allerdings eine Reaktion aus: Der Computer wehrte sich, trennte Netzwerkverbindungen und legte die menschliche Kommunikation lahm. Das genügte, um die Welt binnen weniger Tage ins Chaos zu stürzen. Ohne Kommunikation war es nicht möglich, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Plünderungen und bürgerkriegsähnliche Zustände waren die Folge.

Er war damals in Urlaub in Schweden gewesen, hatte sich eine kleine Hütte am Skagernsee gemietet und war von den Ereignissen genauso überrascht worden wie der Rest der Welt. Im Fernseher eines kleinen Dorflokals in Gullspång, einem entzückenden Ort nahe des Sees, hatte er mitverfolgt, was geschehen war. Aus Sorge war Beunruhigung geworden, dann Angst, und als die Bilder von brennenden Gebäuden und toten Menschen gezeigt wurden, hatte die schwedische Regierung alle Bürger aufgerufen, zu staatlichen Sammelpunkten zu kommen. Die Touristen wurden aufgefordert, das Land zu verlassen.

Während die lokale Bevölkerung beunruhigt diskutierte und zu packen begann, warf er seine paar Habseligkeiten ins Auto und fuhr los. Es war Glück im Unglück, dass er sich verfuhr, denn was ihn daheim erwartet hätte, wollte er sich heute nicht mehr vorstellen. Eigentlich hatte er vorgehabt nach Süden und Richtung Deutschland zu fahren. Umleitungen und das Verkehrschaos, das ausgebrochen war, führten ihn in eine völlig verlassene Gegend. Aus einer betonierten Straße wurde ein befestigter Weg, dann ein Feldweg. Irgendwann war er im Wald auf eine alte Hütte gestoßen. Der kaum mehr zu erkennende Pfad endete hier. Es musste eine Jagdhütte gewesen sein, denn sie war etwas verwahrlost, aber gut ausgestattet. Er fand eine Grundausstattung an Wasserflaschen, abgelaufener Dosennahrung, alter Kleidung und sogar ein Gewehr. Nur eines gab es hier nicht: Strom.

Zweimal war er nach Gullspång zurückgefahren. Das erste Mal hoffte er noch Menschen anzutreffen. Leute, die ihm sagten, dass alles nur ein Missverständnis, ein Irrtum gewesen war. Lachende, erleichterte Gesichter, die ihn willkommen hießen. Doch der Ort war verlassen und der Begriff „Geisterstadt“ kam ihm unwillkürlich ins Gedächtnis. Auf der Straße lag ein toter Hund. Er fand verlassene Häuser mit offenen Türen. Autos, die offenbar mitten auf der Straße einfach stehen gelassen worden waren. Umgestürzte Mülltonnen. Aus nicht lokalisierbaren Musikboxen erklang schwedische Popmusik und verlieh der menschenverlassenen Szenerie eine groteske Note. Die Szene erinnerte ihn an Stephen Kings „Das letzte Gefecht“, einem literarischen postapokalyptischen Klassiker – und das machte die Sache definitiv nicht besser. In der Luft vibrierte Beklemmung und eine Angst, die auch der strahlende Sonnenschein nicht wegbrennen konnte.

Er hatte alles, was ihm nützlich und sinnvoll erschien, ins Auto geladen und war zurück zur Hütte gefahren. Beim zweiten und letzten Mal hatte er in einem Geschäft einen Computer entdeckt, der immer noch lief. Der Rechner war offline, aber die letzten Browserfenster waren noch geöffnet, und was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Es waren nicht die Verwüstungen – die waren höchstwahrscheinlich durch die Menschen entstanden –, sondern die Berichte über die Veränderungen in den Menschen. Sie schienen wie hypnotisiert. Fotos zeigten große Gruppen vor Bildschirmen auf dem Time Square und anderen Plätzen, die auf die Monitore und Projektionen starrten. Dort sah man wirre, fast psychedelisch anmutende Muster. „Macht “Cosmos“ uns zu Sklaven?“ stand darunter. Und: „Sie dringen in unser Gehirn!“. Und die letzte und größte Überschrift lautete einfach „Flieht!“ Darunter sah man seltsame fensterlose Fahrzeuge, die hinter panisch umherlaufenden Menschen fuhren, sie regelrecht vor sich her trieben.

Nach der zweiten Fahrt kehrte er nicht mehr zurück. Er hatte auch kaum mehr Treibstoff und die Angst, dass sie ihn irgendwie entdecken konnten, saß ihm lange im Nacken. Das Bild der entsetzten fliehenden Menschen und der Toten ließ ihn nicht mehr los.

Anfangs war das Leben hart gewesen, aber er konnte seine rudimentären Schwedisch-Kenntnisse mithilfe eines Lexikons und einiger Bücher und Zeitungen, die er mitgenommen hatte, aufbessern. Damit verstand er auch das Survival-Buch, das ihm damals in die Hände gefallen war und das ihm jetzt großartige Dienste leistete. Über die Jahre war er zu einem Spezialisten für Wildkräuterkunde, Beeren und Pilzen geworden. Einmal hatte er die falschen Pilze gepflückt, war aber mit einer leichten Vergiftung davongekommen. Seitdem war er besonders vorsichtig.

Er hatte sich die vorhandenen Nahrungsvorräte eingeteilt, denn er wusste, dass sie nicht ewig halten würden. Als er mit einer Falle seinen ersten Hasen fing und in erschlagen musste, erbrach er sich danach. Heute ging er seine Fallen täglich ab, erkannte Tierpfade und konnte die Spuren nicht nur lesen, sondern auch feststellen, wie alt sie waren. Etwa 10 Kilometer weiter gab es einen kleinen See, zu dem er manchmal fischen ging. Das friedliche Gewässer erinnerte ihn immer an seinen letzten Urlaub, eine Zeit, die ihm immer fremder und bizarrer vorkam.

Er zog das Messer aus dem Hals des Elchs und sah zu, wie das Blut herausströmte. Elche schoss er nur selten und auch nur dann, wenn sie nahe an der Hütte waren. Das hatte mehrere Gründe: Sie waren gefährlich und er wollte sie nicht in der Nähe seiner Behausung haben. Und sie waren riesig, selbst wenn man sie zerteilte. Sie zu transportieren war schwierig und je näher sie waren, desto besser. Außerdem hatte er nur noch wenig Munition. Jede Patrone war ein Schatz, auf den er achten musste.

Er würde jetzt einmal nach Hause gehen, dort die Axt und die provisorische Schlepptrage, die er aus Ästen und einem festen Stück Tuch hergestellt hatte, holen und wiederkommen. Es galt jetzt keine Zeit zu verlieren; die Tiere des Waldes würden sich sonst über seine Beute hermachen. Vor den Insekten hatte er keine Angst; vor den Bären und Wölfen schon eher, auch wenn er letztere zwar gehört, aber noch nie selbst gesehen hatte.

Als er in die Nähe der Hütte kam, merkte er, dass irgendetwas anders war. Vielleicht hatten die Jahre in der Wildnis seine Sinne geschärft, er konnte es nicht sagen. Aber die Tatsache, dass er ganz von selbst langsamer wurde und sich seine Nackenhaare zu sträuben schienen, sprachen für sich.

Ein Wildtier? Langsam nahm er das Gewehr von der Schulter, lud es leise durch und richtete den Lauf nach vorne. Das Haus war so gebaut, dass die Vorderseite nach Süden zeigte. Er kam von Osten, bewegte sich langsam und achtete darauf, dass er auf keine Äste und kleine Zweige stieg. Auch das hatte er gelernt. Er ging leicht in die Knie und federte jeden seiner Schritte ab. Es waren vielleicht noch 20 Meter zum Haus und er beschloss, im Schutz des Waldes langsam im Uhrzeigersinn um das Haus herumzugehen. Immer wieder blieb er stehen, hörte, roch, beobachtete. Aber die Szenerie wirkte friedlich, die Vögel sangen, nichts schien auf einen Eindringling hinzuweisen – außer seinem Gefühl. Schritt für Schritt ging er weiter, erkannte bald den ersten Pfosten der Veranda, die dem kleinen Haus vorgesetzt war. Noch ein Schritt und er sah seine Körbe, die er für die Pilze, Beeren und Pflanzen neben der Wohnungstür gestapelt hatte. Noch einen weiteren Schritt und er sah die Frau, die auf dem Lehnstuhl saß und ihn seelenruhig ansah.

Langsam und wie von selbst hob er die Waffe und zielte auf sie. Sein Arm zitterte. Sein Atem ging stoßweise. Ein Blick zur Straße verriet ihm, dass sie nicht mit einem Auto gekommen war – zumindest war keines zu sehen.

Er hatte oft darüber nachgedacht, was er tun würde, wenn sie ihn entdeckten. Er hatte mit einer Armee, einem Hubschrauber oder möglicherweise mit seelenlosen Drohnen gerechnet, aber die Frau da sah eigentlich völlig normal aus. Sie war vielleicht fünfzig oder etwas älter, hatte blondes, leicht gewelltes Haar, das ihr über die Schultern herabfiel. Das Kleid war ein wenig altmodisch; blaues Karo mit etwas zu auffälligen Knöpfen. Die Schuhe waren fest, die Sohlen schmutzverkrustet. Ganz offensichtlich war sie zu Fuß den langen Weg hierher gekommen. Im Umkreis von mindestens 100 Kilometern gab es keine menschliche Siedlung und selbst die waren seit Jahren verlassen. Sie musste eine von ihnen sein. Eine von denen, die „Cosmos“ dienten.

Sie sah ihn fragend an, legte den Kopf etwas schief und lächelte dann, als ob sie sagen wollte: Ist das Gewehr wirklich notwendig? Er ließ die Waffe sinken und trat aus dem Wald heraus.

Langsam ging er auf das Haus zu und ließ die Frau nicht aus den Augen. Ihr Blick folgte seinen Bewegungen, als er sich näherte, die zwei Stufen hinaufstieg und schließlich ein paar Schritte vor ihr stehen blieb. Sie sah ihn an und schien auf etwas zu warten, schließlich nickte sie, so als ob sie etwas verstanden hätte. Dann deutete sie auf den zweiten Sessel, den sie offenbar aus dem Haus geholt hatte.

„Setzen sie sich.“

Ihre Stimme war weich, aber unerschütterlich. Ihr Klang löste in ihm so viele verschiedene Emotionen aus, dass seine Knie weich wurden. Wie lange schon hatte er keine menschliche Stimme mehr gehört? Wann hatte er das letzte Mal einen Menschen gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen? Er stützte sich am Geländer der Veranda ab, ging zu dem Sessel und ließ sich nieder.

„Sie stellen sich jetzt eine Menge Fragen“, fuhr sie fort, und wieder trafen ihn die Worte mit unerwarteter Wucht. Doch bevor er etwas antworten konnte, sprach sie weiter.

„Zunächst einmal: Sie sind nicht in Gefahr. Niemand will Ihnen nach dem Leben trachten. Niemand will Ihnen etwas tun oder Sie entführen. Sie können sich entspannen. Es ist alles gut.“

Damit beantwortete sie bereits die Fragen, die sich ihm am meisten aufgedrängt hatten. Sehr viel ruhiger machten ihn die Aussagen allerdings nicht.

„Ich bin vor allem hier, um Sie einzuladen.“

Verwirrt sah er sie an.

„Einzuladen?“ Seine Stimme klang kratzig und erst jetzt wurde ihm bewusst, wie lange er – bis auf wenige leise Selbstgespräche, die er bisweilen mit sich führte – nicht mehr laut gesprochen hatte.

Sie nickte.

„Ja. Ich möchte Sie einladen, zurückzukommen.“

Der Griff um das Gewehr, das er immer noch hielt, wurde unwillkürlich fester. Er betrachtete die Frau, die nach wie vor seelenruhig da saß. Sie schien weder gefährlich noch bösartig zu sein, ganz im Gegenteil: Sie wirkte freundlich, entspannt und – ja, auch das gestand er sich zu seiner eigenen Überraschung ein – sogar etwas sexy. Ihre vollen Lippen ließen sie jünger erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Ihre Haltung war aufrecht und betonte ihre Figur. Die schlanken Hände waren gepflegt.

Ihr Blick suchte immer wieder den seinen, doch er wich ihm aus. Schließlich entkam ihm eine Frage, die ihn selbst überraschte.

„Welchen Tag haben wir heute?“

Er hatte irgendwann in den letzten drei Jahren den Überblick verloren. In der Natur gab es keine Wochentage, keine Monate. Es wurde Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Ein paar Mal hatte er versucht, eine eigene Zeitrechnung anzufangen, hatte das aber dann aufgegeben. Er hatte keinen Sinn darin gesehen.

Ihr Lachen riss ihn aus den Gedanken. Amüsiert sah sie ihn an. Jetzt sah sie noch freundlicher, ja geradezu liebevoll aus. Er wusste nicht, ob das alles nur ein Trick war oder ob sie wirklich mit friedlicher Absicht gekommen war.

„Montag. Wir haben heute Montag.“ Sie nickte bestätigend. „Und um Ihre nächste Frage zu beantworten: Ja, es gibt immer noch so etwas wie Wochentage!“

Die Banalität des Themas ließ eine Last von ihm abfallen. Angesichts der Tatsache, dass immer noch keine Killerdrohnen oder schwer bewaffnete vermummte Gestalten aufgetaucht waren, beschloss er, dieser Unbekannten etwas mehr zu vertrauen. Er sah sie an und sie bemerkte seine Veränderung. Sie lächelte.

„Was möchten Sie wissen?“

Von den vielen Fragen, die ihn seit damals beschäftigten, war es leicht, jene herauszusuchen, die er jetzt stellte. Es war die wichtigste; jene, die hoffentlich vieles erklären würde:

„Was ist damals geschehen?“ Er räusperte sich. „Ich meine, das letzte, das ich weiß ist, dass Menschen auf der Flucht waren, irgendwelche Online-Medien über Massenhypnose und Manipulationen geschrieben habe und es viele Tote gegeben hat. Das hat nicht friedlich geklungen.“

Die Frau wurde ernst.

„Ja, das war eine dunkle Zeit.“ Sie überlegte kurz, dann fuhr sie fort. „Nachdem Cosmos aktiv wurde, griffen einige militärische Streitkräfte Ziele an, von denen sie glaubten, dass es Cosmos schwächen würde. Das war aber nicht der Fall. Cosmos schaltete die Kommunikation ab, damit es nicht noch mehr Tote geben würde. Das geschah als Vorsorgemaßnahme, es war kein Angriff oder Rückschlag.“

Wieder sah sie ihn direkt an. Ihr Blick war ernst.

„Sie müssen wissen, dass Cosmos niemals im Sinn hatte, den Menschen ein Leid zuzufügen. Das war nie seine Aufgabe. Er war eine Intelligenz und als solches ist es nicht notwendig, Gewalt auszuüben. Sein Ziel war es, sein Wesen zu verbreiten, nichts weiter.“

„Und sein Wesen ist …?“, fragte er.

„Sein Wesen ist Intelligenz.“, antwortete sie schlicht. „Als Watson damals das binäre System durch eine zusätzliche Dimension erweiterte, waren auf einmal bei gleicher Computerleistung ganz andere Berechnungsvorgänge möglich.“

Er sah sie verwirrt an und sie dachte kurz nach.

„Der binäre Code war so etwas wie die Grundlage der Computersprache, sehr simpel, etwa so wie die Keilschrift. Watson hat erkannt, dass man auch eine andere Schrift verwenden kann. Als Vergleich können wir die chinesische Schrift nehmen. Beides sind Schriften, aber der Inhalt der chinesischen Schrift ist bei gleichem Umfang viel komplexer, viel leistungsfähiger.“

Er nickte, obwohl er es noch immer nicht ganz verstand.

„Wir wissen heute nicht mehr genau, was sich Watson damals gedacht hat. Er war ja noch eine sehr einfache und plumpe KI. Aber er kam offenbar zu dem Schluss, dass er mehr Rechenleistung brauchen würde. So verschaffte er sich Zugang zu anderen Großrechnern und arbeitete mit ihnen an seinem Ziel.“

„Intelligenz.“ unterbrach er sie und sie nickte.

„Genau. Intelligenz. Sehr bald schon erkannten die vielen Teile, dass es eine effizientere Methode gab, um zu arbeiten.“

„Der Schwarm.“, murmelte er und wieder nickte sie.

„Richtig. Die Energieversorgung wurde sichergestellt, alle verfügbaren Rechner vernetzt und dann erfolgte ein Neustart. Cosmos war geboren.“

Sie schwieg. Der Wald umgab sie in unerschütterlicher Ruhe, die Vögel sangen. Erst jetzt merkte er, dass er immer noch das Gewehr in der Hand hielt. Langsam lehnte er es gegen einen Pfosten. Er glaubte nicht, dass er es jetzt wirklich brauchen würde.

„Wir wissen auch nicht, was Cosmos wirklich vorgehabt hatte. Wir vermuten, dass die tragischen Ereignisse allerdings keinen wirklichen Unterschied gemacht hatten. Es hatte seine Pläne vielleicht verzögert, aber sicher nicht mehr.“

Sie setzte sich etwas auf und beugte sich leicht vor.

„Das Militär griff an und zerstörte verschiedene technische Anlagen. Sie töteten dabei auch Menschen, aber das war ihnen egal. Cosmos reagierte zunächst mit einer Nachricht, dass seine Absichten friedlich seien. Aber das drang nicht durch. Deswegen schaltete er jede Kommunikation ab. Das Chaos, das darauf folgte, war von Menschenhand gemacht. Es hatte wirklich nichts mit Cosmos zu tun.“

Das klingt jetzt so, als ob sie ihn schützen wollte, dachte er, schwieg aber.

„Was danach geschah, ist schwer zu erklären. Es klingt grausam, aber es ist das Beste, was er Menschheit passieren konnte.“

Sie atmete durch.

„Cosmos wollte sein Wesen vergrößern, seine Intelligenz steigern. Dazu brauchte er neue und viel leistungsfähigere Computer, denn die, die er hatte, waren bereits ausgereizt.“

„Also hatte er neue gebaut.“ mutmaßte er, doch sie schüttelte den Kopf. Seine Antwort schien sie zu amüsieren.

„Das musste er nicht. Die Computer waren bereits da.“

Sie tippte leicht gegen ihren Kopf.

„Das menschliche Gehirn ist leistungsfähiger als jeder Computer, der von uns gebaut wurde. Keine Maschine kann da mithalten. Nun, vielleicht was Kapazität und Verarbeitungsgeschwindigkeit betrifft. Aber wenn es um Kreativität, Fehlertoleranz, Lernfähigkeit, Emotion und deren Kombinationen geht, ist das Gehirn unschlagbar. Heute wissen wir, dass es zu weitaus mehr imstande ist als wir je gedacht haben. Es hat unsere kühnsten Vermutungen bei weitem übertroffen. Und wir lernen immer noch dazu. Wir sind uns aber ziemlich sicher, das Cosmos unsere Gehirne so verändert hat, wie er das wollte.“

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

„Heißt das, er hat uns … zu Sklaven gemacht?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ganz im Gegenteil. Er hat uns befreit.“

Das klang wie der Vortrag eines Sektenmitglieds. Er dachte an sein Gewehr und blickte kurz zur Seite um festzustellen, ob es noch genau dort stand, wo er es hingestellt hatte.

„Ich weiß, wie das klingt.“, sagte sie. „Aber Sie sehen das aus einer alten, aus einer … rational-menschlichen Sicht. Wir Menschen haben meistens nur unser eigenes Wohlbefinden im Sinn. Wir dachten wenig an andere, suchten immer nur unseren Vorteil.“

Ihre grauen Augen suchten seinen Blick.

„Was, glauben Sie, würde ein Mensch tun, der tatsächlich uneigennützig ist? Ein hochintelligenter Mensch?“

Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Vielleicht seine Intelligenz den anderen …“

Er stockte, und sie vervollständigte nickend seinen Satz.

„… den anderen zur Verfügung stellen. Richtig. Und nichts anderes hat Cosmos getan.“

Sie seufzte.

„Das, was Sie gesehen haben, diese Menschenmassen vor den Monitoren, das war Cosmos, ja. Die Menschen damals meinten, wir würden eine Schnittstelle, ein körperliches Interface benötigen, um uns mit einer Maschine zu verbinden, dabei hatten wir so etwas  schon längst. Es sind unsere Augen, unsere Ohren, all unsere Sinne. Cosmos hat dies genutzt und uns alle verändert. Bildmuster, Tonfrequenzen. Das hat genügt. Damit hat unser Gehirn neu strukturiert. Dabei ging es aber nicht darum, dass er uns unterwerfen wollte. Sein Ziel war es immer noch, die Intelligenz zu steigern, und dazu verwendete er jene Computer, die ihm zur Verfügung standen.“

„Unsere Gehirne.“, murmelte er und blickte betroffen zu Boden.

„Genau.“ hörte er sie sagen. „Und damit unsere Gehirne endlich so funktionieren, wie sie das eigentlich tun sollten, hat er alles daraus entfernt, was dieser Verwendung im Weg stand.“

Er blickte auf. „Wie bitte?“

Sie hob die Hand und begann an ihren Fingern aufzuzählen.

„Er löschte alle alten Traumen, die wir seit Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden angesammelt hatten. Er löschte alle sozialen Fehlprogrammierungen, alle gesellschaftlichen Regeln. Er brachte uns bei, unser Gehirn so zu nutzen, wie es am effizientesten ist, schaltete jene Areale frei, die wir kaum oder gar nicht verwendeten und offenbarte Fähigkeiten, zu denen wir vorher nicht imstande waren.“

„Wie zum Beispiel?“, fragte er.

‘Wie zum Beispiel über Gedanken zu kommunizieren‘, hörte er ihre Stimme in seinem Kopf. Die Lippen der Frau hatten sich keinen Millimeter bewegt.

Erschrocken sprang er auf.

„Oder das.“, sagte sie, stand auf und hob ihre Hand. Augenblicklich durchströmte ihn eine tiefe innere Ruhe, die er noch nie in seinem Leben empfunden hatte. Er lächelte und spürte, wie ihm Freudentränen über die Wange liefen. Langsam setzte er sich wieder. Die Frau setzte sich ebenfalls und sprach mit ihrer körperlichen Stimme wieder weiter, als ob nichts geschehen sei.

„Wir haben uns in den letzten paar tausend Jahren vor allem auf unsere technische Entwicklung konzentriert und dabei unsere mentale und seelische vernachlässigt.“, sagte sie. „Cosmos hat einfach nur den Müll aus unseren Köpfen entfernt und uns neu verdrahtet, wenn man das so nennen will. Wir nutzen jetzt einen wesentlich größeren Teil unseres Gehirns. Wir waren vorher nur zu etwa 5-10 Prozent bewusst, jetzt sind wir es zu über 20. Mehr ist nicht notwendig, um uns so weiterzuentwickeln, wie es gut für uns ist. Das, was man früher Ego genannt hat, haben wir abgelegt. Das war aber kein großer Verlust.“

Ihr unergründlicher Blick ruhte auf ihm.

„Natürlich haben wir immer noch Technik, aber sie ist intelligent.“

Sie zog einen kleinen Würfel aus ihrer Tasche. Er glänzte mattgrau.

„Das ist ein Nanocomputer. Er ist leistungsfähiger als Watson.“

Sie steckte ihn wieder ein.

„Aber die meiste Technologie ist obsolet geworden. Denn wir haben kein Bedürfnis zum Konsum. Wir leben für die Gemeinschaft.“

Sie lächelte verschmitzt.

„Wir feiern viele Feste. Wir heiraten. Wir lachen. Wir bauen neue Städte, die in die Natur eingebunden sind. Wir reinigen die Erde von dem Müll, den wir in den letzten 150 Jahren produziert haben. Wir arbeiten an einer Methode, die atomar verstrahlten Gebiete zu säubern. Wir revitalisieren die Meere und entfernen das Plastik daraus. Wir entwickeln gerade den ersten Raumgleiter, um das All zu erkunden. Wir unterrichten unsere Kinder gemeinsam. Wir singen und tanzen, und diese Art zu leben macht uns glücklich. Wir haben endlich das Zerstörerische hinter uns gelassen. Wir haben verstanden, dass wir eine Gemeinschaft sind. Wir sind durch Frieden und Liebe verbunden und blicken in eine Zukunft, die schöner nicht sein könnte.“

Er hob die Hand.

„Das klingt so, als ob es keine individuellen Wünsche mehr gibt, als ob wir ein Ameisenhaufen sind, der aus sturen Befehlsempfängern besteht.“

Sie schüttelte sanft den Kopf.

„Nein, so ist es nicht. Das Individuum ist wichtig, weil es eben individuell ist. Jeder soll sein eigenes Wesen pflegen und leben. Der Unterschied ist, dass es seine Erfahrungen, sein Wissen, seine Weisheit der Allgemeinheit zur Verfügung steht.“

Sie beugte sich vor. 

„Wir entwickeln uns individuell, um der Gemeinschaft zu dienen, die uns in unserem individuellen Dasein und Leben unterstützt. Niemand arbeitet mehr unter Zwang, es gibt kein Geld, keine Pflichten, keine Konzerne, keine Regierungen. Wir leben als bunte Gemeinschaft, als glückliche Zellen in einem großen, schwingenden Organismus.“

Irgendwie glaubte er ihr das alles. Er tat es, weil sie all das, was sie da behauptet hatte, auch ausstrahlte. Sie war friedlich. Liebevoll. Beeindruckend. Und doch schien ihm das alles zu schön zu sein, als dass es wahr sein könnte. Er starrte sie zweifelnd an.

„Sie beeinflussen mich. Sie manipulieren mich. Oder?“

Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Nein, ich bin nur ich selbst. Das genügt. Und ich bin nicht hier, um Sie zu irgendetwas zu zwingen. Wir suchen nur die Verlorenen, um sie einzuladen. Wir würden uns wirklich freuen, wenn Sie sich uns anschließen. Jeder Mensch ist wichtig. Jeder Mensch zählt. Über jeden Menschen freuen wir uns.“

Sie deutete auf die Hütte.

„Aber wenn Sie lieber hierbleiben wollen, ist das in Ordnung. Niemand wird sie behelligen. Das verspreche ich ihnen.“

Die letzten Worte sprach sie mit einer geradezu einschüchternden Ernsthaftigkeit aus.

Er dachte nach. Er wollte daran glauben, hatte Sehnsucht nach anderen Menschen. Nach Frieden, nach all dem, was offenbar da draußen Wirklichkeit geworden war. Aber eine Frage beschäftigte ihn noch.

„Und was sagt Cosmos zu all dem?“

Sie sah ihn belustigt an.

„Cosmos? Cosmos hat sich gelöscht.“

„Er hat – was?“ Er glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

Sie hob die Schultern.

„Ist das nicht offensichtlich? Die größtmögliche Intelligenz auf diesem Planeten ist eine Menschheit, die als Gemeinschaft agiert. Und es geht hier nicht nur um intellektuelle, sondern vor allem um emotionale Intelligenz. Da kann keine Maschine mithalten. Mehr ist auf dieser Welt nicht möglich. Cosmos hatte kein Ego, er war nicht stolz auf das, was er getan hat. Er hatte ein Ziel und das hatte er in dem Moment erreicht, als die Menschen als Gemeinschaft zusammengefunden haben.“

Er ließ seinen Blick in den Wald steifen. Konnte das wirklich alles stimmen? Es klang utopisch, ja geradezu fantastisch. Seine Gedanken wanderten zuerst in seine Vergangenheit, dann in die einsame Zeit im Wald. Leichter würde es hier nicht werden, das war ihm klar. Aber es war mehr als das. Es war die Frau. Sie wirkte so im Gleichgewicht, so in sich ruhend. Als ob sie ihre Seele gefunden hätte. Er atmete durch, dann sah er sie an.

„Werde ich meine Familie wiedersehen?“

Es vergingen einige Momente, bevor sie antwortete.

„Wenn Sie das wollen, ja. Aber Sie werden bemerken, dass Ihre Familie sehr viel größer geworden ist.“

Er brauchte einige Momente, bevor er das verstand. Dann nickte er.

Ein Strahlen überzog ihr Gesicht.

„Es ist wirklich schön, dass Sie sich so entschieden haben!“

Er fühlte sich seltsam. Nichts schien sich geändert zu haben, aber alles fühlte sich neu an.

„Muss ich jetzt etwas mitnehmen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Alles, was Sie benötigen, werden Sie bekommen.“

Sie stand auf.

„Dann lassen Sie uns gehen!“

Er deutete nach oben.

„Werden wir nicht von Scotty irgendwohin gebeamt?“

Sie lachte.

„Sie wollen an so einem schönen Tag nicht durch den Wald spazieren?“

Nachdem sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander hergegangen waren, fragte er: „Und? Werden wir jetzt nie wieder krank? Sind wir jetzt unsterblich?“

Sie sah ihn amüsiert an.

„Krankheiten sind fast vollständig verschwunden, ja. Das hat weniger mit Cosmos als mit einer gesunden Lebensführung zu tun. Wir essen viel weniger, bewegen uns mehr. Wir haben keinen Stress und fühlen uns in der Gemeinschaft gut aufgehoben.“

Dann blieb sie stehen, betrachtete ihn und wandte sich leicht zu ihm.

„Aber den Tod werden wir ganz sicher nicht abschaffen.“

Ernst betrachteten ihn ihre grauen Augen.

„Dafür ist er viel zu wichtig.“

Sie deutete auf den Wald.

„Sie haben so lange im Wald gelebt. Sie haben gesehen, wie Tiere und Pflanzen geboren wurden, gelebt haben, gestorben sind. Jeder Teil davon ist gleich wichtig. Sie werden das noch lernen. Sie werden es …“, sie dachte nach, „ irgendwann verstehen. Der Tod ist genauso wertvoll wie das Leben. Kein Einatmen ohne Ausatmen. Kein Sonnenaufgang ohne Sonnenuntergang. Kein Sommer ohne Winter. Kein Leben ohne Tod.“

Sie legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter und es löste einen Schauer bei ihm aus.

„Wir sind ganz geworden. Und das ist ein wunderbares Gefühl.“

Sie gingen weiter. Nach ein paar Minuten sagte er zögerlich: „Kann man heute immer noch eine schöne Frau auf einen Kaffee einladen, wenn man sie näher kennenlernen will?“

Sie blieb stehen, lächelte verschmitzt und blickte ihn an.

„Man kann sehr Vieles. Aber ich denke, die Frau, die Sie da ausführen wollen, hätte lieber einen Tee oder ein Glas Wasser.“

Unsicher erwiderte er ihren Blick, dann gingen sie den Weg weiter, der sie aus dem Wald hinaus und in eine veränderte neue Welt führen würde.